Gestern habe ich mit meinem Patenkind telefoniert. Schon mit 15 Jahren war sie ein sehr reflektiertes junges Mädchen, das sich über sehr viele Dinge Gedanken gemacht hat, besonders über die Menschen, die ihr nahestehen und auch über sich selbst. Ich fand damals schon ihren Blick auf gewisse Themen bemerkenswert sowie die Art und Weise, wie sie auf sich selbst blickte und über sich nachdachte. Nun ist sie 18 Jahre alt geworden und stellt sich sowie ihren Weg sehr in Frage. Sie erzählte mir, dass ihre Freundinnen sich sehr miteinander vergleichen und es darum geht zu beurteilen, wer wie weit gekommen ist bzw. es wie weit gebracht hat. Hat man es deren Ansicht nach nicht zu etwas gebracht, ist man automatisch ein ‚looser‘. Das beschäftigt mein Patenkind, denn sie findet, sie hat es bis jetzt zu nichts gebracht, weil sie sich entschlossen hat, vorerst kein Abitur zu machen. Sie hat viele Begabungen im kreativen Bereich, aber das zählt anscheinend nichts.
Mich hat dieses Gespräch gestern sehr nachdenklich gemacht, da es mir zeigt, dass sich auch unter den jungen Frauen nicht wirklich viel ändert. Es herrscht nicht nur ein Wettbewerbsdenken, sondern im Grunde auch die Sehnsucht nach einem ‚Einheitsbrei‘. Verlässt man die herkömmlichen Pfade, wird man nicht nur in Frage gestellt, sondern gegebenenfalls auch ausgeschlossen.
Viele Menschen leiden darunter, das Gefühl zu haben, die Erwartungen anderer erfüllen zu müssen. Vielfach sind es die der Eltern, die nicht verstehen können, dass man seinen eigenen Weg geht. Und die oft die eigenen Unzulänglichkeiten auf ihre Kinder projizieren und unbewusst vermitteln, dass ihr Kind das Leben führen soll, das sie selbst nicht haben. Oder den – oft finanziellen – Erfolg haben sollen, den sie selbst nicht erreicht haben. Daraus resultieren dann die Erwartungen, die wir an uns selbst stellen und die in der Regel aus Glaubenssätzen, die wir im Laufe unseres Lebens entwickelt haben, entstehen. Wir vergessen – bzw. sind uns dessen gar nicht bewusst –, dass wir uns dabei immer mehr selbst verlieren und uns anpassen.
Ich kann ein Lied davon singen, denn auch ich gehörte früher zu den Menschen, die sich ständig mit anderen vergleichen und natürlich immer schlecht dastehen. Mir war damals überhaupt nicht bewusst, dass Menschen unterschiedliche Rahmenbedingungen im Leben vorfinden und sich daher auch anders entwickeln. Das ist mir erst viel später klar geworden als mich intensiv mit mir selbst auseinandergesetzt habe. Die hohen Erwartungen, die ich an mich gehabt habe, haben mir meine Lebensfreude und vor allem mein Selbstwertgefühl genommen. Es hat mich viel Zeit, Geld sowie Energie gekostet, mich aus meinem eigenen Gefängnis zu befreien und immer mehr zu mir zu kommen. Der Weg war lang und auch beschwerlich, aber er war der einzige Weg. Ich bin bei mir angekommen und habe aufgrund meiner eigenen Erfahrung meine Kompetenzen als psychologische Beraterin entwickelt.
Zu mir kommen vor allem Frauen, die im Grunde alle dasselbe Thema haben. Sie machen sich selbst Druck, haben das Gefühl sich immer wieder rechtfertigen zu müssen, haben den Drang alles perfekt zu machen, befürchten die Kritik anderer und fühlen sich nicht so wertvoll wie andere Menschen. Viele von ihnen sind noch jung, Ende 20, manche älter. Aber die Themen sind dieselben. Der Bewusstwerdungsprozess – zu erkennen, wie die Dinge zusammengehören und wie man sich dorthin entwickelt hat – ist wichtig, um nachhaltig Veränderung herbeizuführen. Frauen sind immer noch in der ‚Vergleichs-Falle‘ gefangen. Sich zu vergleichen, macht nicht nur unglücklich, es verhindert auch die eigene Individualität zu entdecken und somit ein gutes Selbstwertgefühl zu entwickeln.
Ich möchte Frauen ermutigen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, sich die eigenen Wünsche einzugestehen, den Mut zu haben ihren eigenen Weg zu gehen. Auch wenn dieser nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht. Wir alle sind einzigartig, niemand gleicht einem anderen Menschen. Diese Vielfalt macht uns nicht nur aus, sie bringt uns auch als Gesellschaft, ja als Menschheit weiter. Nichts wird ewig andauern, die Veränderung ist das einzig Beständige. Wir werden uns weiterentwickeln, denn wir sind Teil einer sehr lebendigen Evolution und nicht getrennt von ihr. Alles hat eine Auswirkung, Stillstand und Fortschritt. Doch es gibt keinen wirklichen Stillstand, es gibt nur ein Verzögern. Aufzuhalten ist die Entwicklung zu mehr Bewusstheit nicht. Und wir Frauen spielen in ihr eine sehr wichtige Rolle. Nehmen wir sie ein. Es gibt keine Zeit mehr zu verlieren.